Am 25. Mai 2022 gelang Freiburger Familien ein Teilerfolg vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieser betraf die soziale Pflegeversicherung. Die Familien hatten mit Unterstützung des Familienbunds der Katholiken und des Deutschen Familienverbands sechzehn Jahre gerichtlich dafür gekämpft, dass der von Familien durch die Kindererziehung erbrachte Beitrag für die im Umlageverfahren finanzierten Sozialversicherungszweige anerkannt wird. Dass sich an diesem Tag niemand so richtig über den Erfolg in der Pflegeversicherung freuen wollte, lag an den gleichzeitigen Niederlagen in der Renten- und Krankenversicherung. Ausgerechnet in der gesetzlichen Rentenversicherung, dem wirtschaftlich bedeutendsten Umlageverfahren, wollte Karlsruhe den Gesetzgeber nicht zu einer Reduzierung der Beiträge von Familien verpflichten.
Umso wichtiger war für Familien die Entscheidung in der Pflegeversicherung. Hier bestätigte das Bundesverfassungsgericht die wichtige Aussage des Pflegeurteils von 2001, dass Familien mit der Kindererziehung einen zusätzlichen „generativen Beitrag“ leisten, der bei der Erhebung der Pflegeversicherungsbeiträge reduzierend zu berücksichtigen ist. Außerdem erkannten die Richter an, dass Versicherte mit mehreren Kindern einen größeren generativen Beitrag erbringen als Familien mit nur einem Kind. Der Gesetzgeber dürfe daher bei der Beitragserhebung nicht einfach wie bisher pauschal zwischen Versicherten mit und ohne Kinder unterscheiden, sondern müsse nach der Kinderzahl differenzieren.
Bis heute leisten 14 Millionen Eltern mit minderjährigen Kindern einen doppelten Beitrag für die Sozialversicherungen. Beitragsgerechtigkeit setzt Kinderfreibeträge in den Sozialversicherungen voraus. Ähnliches kennen wir aus dem Steuerrecht: Wenn jemand drei Kinder hat, bekommt er drei Mal den Kinderfreibetrag. Bei den Sozialversicherungen ist das nicht so. Weil wir die Beitragsgerechtigkeit bisher nicht haben, müssen Eltern Beiträge einzahlen wie jeder andere gesetzlich Versicherte – und das, obwohl sie für ein Kind, für drei oder fünf Kinder sorgen. Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 2001 im Pflegeversicherungsurteil entschieden, dass Eltern derzeit über Gebühr belastet werden, da neben den Geldbeiträgen auch die Erziehung von Kindern ein wichtiger Beitrag zur den Sozialversicherung ist, der ebenfalls berücksichtigt werden muss. Der Gesetzgeber wurde damals verpflichtet auch die Kranken- und Rentenversicherung auf die Frage der Familiengerechtigkeit hin zu prüfen. Diese Prüfung hat nun, nachdem der Familienbund der Katholiken und der Deutsche Familienverband beim Bundesverfassungsgericht geklagt hatten, stattgefunden. Siehe auch: www.elternklagen.de.
In der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung sieht das Bundesverfassungsgericht durch die gleiche Beitragsbelastung von Eltern und Beitragspflichtigen ohne Kinder keine Benachteiligung der Eltern, weil durch die rentenrechtliche Anerkennung von Kindererziehungszeiten und die beitragsfreie Familienversicherung im Krankenversicherungsrecht ein ausreichender Ausgleich des Nachteils erfolgt.
Bei der Pflegeversicherung sieht es anders aus. Der allgemeine Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung wird um 0,35 Beitragssatzpunkte auf dann 3,4 Prozent der Bemessungsgrundlage angehoben. Diesen zahlen ab 1. Juli 2023 Eltern mit einem Kind. Zur Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts wird der Beitragszuschlag für Kinderlose ab dem 23. Lebensjahr von 0,35 auf 0,6 Beitragssatzpunkte angehoben, so dass deren Gesamtbeitrag auf 4,0 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze steigt.
Gleichzeitig werden Mitglieder mit mehreren Kindern ab dem zweiten Kind bis zum fünften Kind mit einem Abschlag in Höhe von 0,25 Beitragssatzpunkten für jedes Kind entlastet. Anders als beim allgemeinen Beitrag von 3,4 Prozent für Eltern mit einem Kind, werden bei der Ermittlung des Abschlags Kinder, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, nicht mehr berücksichtigt. Sobald bei Mitgliedern mit mehr als zwei Kindern eines der Kinder das 25. Lebensjahr vollendet hat, führt dies demnach dazu, dass die Reduzierung der Beiträge ab dem zweiten Kind nur noch für die jeweilige Anzahl der Kinder unter 25 Jahren berücksichtigt wird.
Ab dem fünften Kind bleibt es bei einer Entlastung in Höhe eines Abschlags von insgesamt bis zu 1,0 Beitragssatzpunkten. Auch Eltern, die das 23. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, können die Beitragsabschläge erhalten. Für Eltern mit einem Kind gilt weiterhin der reguläre Beitragssatz.
1. Kostenneutrale Umsetzung als primäres Ziel
Der Umfang des neuen Kinderlosenzuschlags und der Entlastungen in der soeben genannten Staffelung ergibt sich wohl vor allem aus dem Ziel, dass nach dem Willen des Gesundheitsministeriums durch die Familienentlastung keine zusätzlichen Kosten für die Pflegeversicherung entstehen sollen. Im Referentenentwurf wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass die Staffelung „finanzneutral“ erfolge. Verfassungsrechtlich und familienpolitisch ist die vorgeschlagene Staffelung aber sehr problematisch.
2. Unausgewogene Staffelung zu Lasten von Familien mit mehr als einem Kind
Die geplante Entlastung pro Kind ist höchst unterschiedlich. Während das erste Kind zu einer Beitragsentlastung von 0,6 Prozentpunkten führt, beträgt die Entlastung für die weiteren Kinder mit jeweils 0,15 Prozentpunkten nur noch ein Viertel der Entlastung für das erste Kind. Beitragsrechtlich ist das erste Kind also viermal so viel wert, wie die weiteren Kinder. Es gibt eine klare Schlagseite zugunsten der Einkindfamilie und zulasten von Familien mit zwei und mehr Kindern. Falls der Referentenwurf tatsächlich in den Regierungsberatungen so abgeändert werden sollte, dass die Befreiung vom Kinderlosenzuschlag lebenslang, die weiteren Entlastungen aber nur noch für kindergeldberechtigte Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gelten, wird die Schieflage weiter vergrößert. Es ist zweifelhaft, ob diese ungleiche Behandlung wesentlich gleicher generativer Beiträge noch mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes vereinbar ist. Das Ziel der kostenneutralen Umsetzung der Familienentlastung kann die Ungleichbehandlung jedenfalls nicht rechtfertigen, da auch kostenneutrale Staffelungen denkbar sind, bei denen die Entlastungswirkung gleichmäßig auf die Kinder verteilt ist.
Aber auch aus familienpolitischer Sicht ist die in der geplanten beitragsrechtlichen Staffelung enthaltene Benachteiligung von Familien mit mehreren Kindern kritisch zu bewerten. Je höher die Kinderzahl, desto größer ist die Gefahr, trotz eigentlich auskömmlichen Einkommens durch die Sozialversicherungsbeiträge unter das Existenzminimum zu geraten und auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Das kann nur eine hinreichende Beitragsentlastung auch für Familien mit mehreren Kindern verhindern. Eine solche sieht der aktuelle Entwurf aber nicht vor. Zudem ist es für Eltern mit nur einem Kind aufgrund des ausgebauten Betreuungsangebots noch prinzipiell möglich, in einem hohen Umfang berufstätig zu sein. Mit zunehmender Kinderzahl wird das aber immer schwieriger, so dass gerade für die Mehrkindfamilien die Beitragsentlastung wichtig ist. Und schließlich beruhen die aktuellen Finanzierungsprobleme der Sozialversicherung wesentlich darauf, dass es zu einem demografischen Wandel gekommen und die Geburtenrate unter das bestandserhaltende Niveau von 2,1 Kindern je Frau gesunken ist. Die Sozialversicherung braucht daher mehr Familien mit zwei und mehr Kindern. Es ergibt folglich ein schiefes Bild, wenn die Beitragsgestaltung suggeriert, dass der wesentliche generative Beitrag von Ein-Kind-Familien geleistet wird.
Dass ab dem sechsten Kind keine weitere Entlastung erfolgen soll, leuchtet ebenfalls nicht ein. Mit jedem Kind erbringen Eltern einen generativen Beitrag, der zu berücksichtigen ist. Die Entwurfsbegründung verweist darauf, dass Familien mit fünf und mehr Kindern nur 0,6 Prozent aller Familien ausmachten. Dieser Anteil sei „klein genug, um nicht weiter zu differenzieren“. Dieses Argument kann man auch umdrehen: Da durch die weitere Entlastung dieses kleinen Anteils der Familien nur eine geringe finanzielle Zusatzbelastung eintreten würde, sollte der Gesetzgeber nicht ohne Not von einer konsequenten und gerechten Staffelung abweichen. Eine weitere Begründung des Entwurfs für den Verzicht auf zusätzliche Beitragsdifferenzierungen ab dem sechsten Kind zeigt, dass das vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Konzept des generativen Beitrages verkannt wird. Wenn der Entwurf ausführt, dass „eine weitere Absenkung bei Familien mit mehr als fünf Kindern zur Folge [hätte], dass der Pflegeversicherungsbeitrag so niedrig wäre (kleiner als 2,8 Prozent), dass die Höhe des Beitrags nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zum Wert der versicherten Leistungen bei Pflegebedürftigkeit stünde“, ist darauf zu verweisen, dass die Erziehung von sechs Kindern einen ganz erheblichen generativen Beitrag für die finanzielle Zukunftsfähigkeit der Pflegeversicherung darstellt, der auch ohne zusätzliche monetäre Beiträge einen vollen Versicherungsschutz rechtfertigt.
3. Unangemessen niedrige Berücksichtigung des Beitrags der Kindererziehung
Auch unabhängig von einer vergleichenden Betrachtung ist die ab dem zweiten Kind greifende Entlastung von 0,15 Prozentpunkten pro Kind zu niedrig. Legt man das durchschnittliche Bruttojahreseinkommen aller in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherten (2022: 38.901 Euro) als Familieneinkommen zugrunde, ergibt sich eine monatliche Entlastung von weniger als fünf Euro pro Kind. Auch wenn die Frage des angemessenen Ausgleichs für die Familienleistungen nicht ohne Rückgriff auf politische Wertungen zu beantworten ist, wird dieser Betrag der konstitutiven Bedeutung des generativen Beitrags für die Zukunft der Pflegeversicherung offensichtlich nicht gerecht. Eine Entlastung in dieser Höhe kann auch keinen relevanten Beitrag zur Armutsprävention leisten.
4. Kinderlosenzuschlag und lebenslange Beitragsentlastung nicht sachgerecht
Fraglich ist, ob es richtig ist, wenn die in der Beitragsstaffelung vorgeschlagenen Entlastungen lebenslang und nicht nur in der aktiven Familienphase gelten. Der Referentenentwurf spricht sich dafür aus. Er verweist darauf, dass zwar einerseits die erziehungsbedingten Konsumausgaben auf die Kindheit, Jugend und Ausbildungszeit entfielen, andererseits aber die entgangenen Erwerbs- und Versorgungschancen auch danach fortwirkten. Denkt man in der Logik des generativen Beitrags, erscheint es konsequent, nur während der aktiven Familienphase zu entlasten. Denn die Erziehungsausgaben und die für Kinder aufgewandte Zeit sind Investitionen in die zukünftigen Beitragszahlenden, die der finanziellen Stabilität der Pflegeversicherung ebenso wie monetäre Beiträge zugutekommen. Wenn Eltern ihre Kinder gut erziehen und fördern, hat auch die Pflegeversicherung später finanziell etwas davon. Vom Fortwirken der während der Familienphase entgangenen Erwerbschancen hat die Pflegeversicherung aber keinen Vorteil. Es handelt sich somit um negative Folgen des in der Vergangenheit erbrachten generativen Beitrages, aber nicht selbst um einen generativen Beitrag. Obwohl eine Berücksichtigung dieser langfristigen negativen Folgen der Familienarbeit im Beitragsrecht nicht schlüssig ist, müssen andere familienpolitische Maßnahmen ergriffen werden, um Eltern zu unterstützen, die aufgrund der Kindererziehung langfristige Nachteile für ihr Einkommen und ihre Altersvorsorge hinnehmen mussten.
Für die Begrenzung der Beitragsentlastung auf den Zeitraum, in dem der Erziehungsaufwand typischerweise anfällt, sprechen auch weitere Argumente. Ein wichtiges Argument ist die Bedarfsgerechtigkeit. Denn gerade junge Familien benötigen Entlastung, während sich die finanzielle Situation von Eltern oft schlagartig bessert, wenn die Kinder finanziell auf eigenen Beinen und die Gehälter im Verlauf der beruflichen Laufbahn in vielen Fällen gestiegenen sind. Eine nur temporäre Familienentlastung erleichtert auch die Finanzierbarkeit. Denn der deutlich größere Teil der Gesellschaft muss gegenwärtig nicht für unterhaltsberechtigte Kinder aufkommen. Im Jahr 2019 lebten knapp 15 Millionen Eltern gemeinsam mit mindestens einem minderjährigen Kind – nur etwa 18 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die gesellschaftliche Mehrheit kann auch eine größere Entlastung von Familien mit kindergeldberechtigten Kindern tragen. Schließlich verhindert eine zeitliche Begrenzung der Familienentlastung das Missverständnis, dass es sich bei der Differenzierung der Beiträge um eine „Bestrafung von Kinderlosen“ handele. Es geht bei der Beitragsentlastung von Familien nicht darum, Kinderlose zu belasten, sondern darum, Familien in Anerkennung ihres größeren finanziellen Aufwandes zu entlasten. Der 2005 eingeführte Kinderlosenzuschlag enthält daher die falsche Akzentuierung und hat dem berechtigten Anliegen der Familien, bei den Sozialversicherungsbeiträgen angemessen entlastet zu werden, in der politischen Debatte geschadet. Man kann es nicht oft genug betonen: Es geht bei dem Anliegen der Beitragsreduzierung nicht darum, Familien gegen Kinderlose auszuspielen oder eine moralische Bewertung von Lebensstilen vorzunehmen, sondern schlicht um die Berücksichtigung unterschiedlicher ökonomischer Lagen und temporärer Schutzbedarfe. Der Kinderlosenzuschlag und die lebenslange Beitragsentlastung von Eltern sind daher konzeptionell verfehlt.
Klarstellend ist im Hinblick auf den aktuellen Gesetzentwurf darauf hinzuweisen, dass die zeitliche Begrenzung der Entlastung von Familien mit einer deutlichen Erhöhung der aktuell geplanten Entlastung einhergehen muss. Die im Referentenentwurf vorgesehene minimale Entlastung von 0,15 Prozentpunkten für das zweite bis fünfte Kind in zeitlicher Hinsicht zu begrenzen, ohne mindestens die dadurch eingesparten Mittel für eine Erhöhung der Familienentlastung zu verwenden, wäre nicht sachgerecht.
Siehe dazu: https://elternklagen.de/eine-mangelhafte-umsetzung-die-geplante-familienentlastung-in-der-pflegeversicherung/